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Zurück in die Steinzeit
Über Putins, Trumps und Xi Jinpings Mitläufer
Der folgende Text ist eine Antwort auf Mathias Brodkorbs Villa Kunterbunt in Cicero 8/2025
Klingt doch gescheit, der Epigraph im Kasten oder?
Nützt nur nichts. Niemand erhebt bei dem Thema Anspruch auf Genauigkeit, doch Anhaltspunkte gibt es. Fragen wir Prof. Google!
82 Kriege nennt er für das 17. Jahrhundert, für das 18. und 19. bleibt er verschlossen. Die KI liefert ein offenes Geständnis: Es ist unmöglich, eine genaue Zahl der Kriege des 18. und 19. Jahrhunderts zu nennen, da die Definitionen von 'Krieg' variieren. Die vorhandenen Listen zeigen jedoch, dass zahlreiche Konflikte eine weltweite Tendenz zu militärischen Auseinandersetzungen offenbaren. Wohl aber werden Schlachten und Gefechte genannt.
Also: Trotz fortgeschrittenen Alters der Grundrechnungsarten noch mächtig, beginne ich mit dem Zusammenzählen – und komme auf 387. Allein für das 18. Jhdt. Die Zahlen des 19. Jahrhunderts – nach dem ersten Anschein deutlich mehr – zähle ich nicht mehr. Für das 20. Jhdt. bleiben Prof. Google und die KI weiter zurückhaltend: Klar sei jedoch, so ist lesen, dass das 20. Jahrhundert das blutigste der Menschheitsgeschichte war.
Frappierend ist – offenbar nur für mich – die Diktion: taktischer russischer Sieg, strategischer japanischer Sieg oder Unentschieden zwischen Briten und Franzosen oder Frankreich besiegt Österreich. Klingt doch haarscharf wie Fußball! Und ist auch wie Fußball? Darf man doch annehmen – bei identischer Diktion?
Szenenwechsel: Ein recht öffentlichkeitsscheuer Think-Tank aus hochrangigen Professoren, Diplomaten und Politikern lud ein halbes Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine zum Vortrag ein: Erörterung der Kriegssituation. Am Podium: ein führender Militärstratege, eine Lehrstuhlinhaberin für Osteuropaforschung, ein Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte. Ich darf zuhören. Und sitze zufällig am Fenster. Beste Aussicht auf einen der großen Plätze der Stadt. Es ist 18:oo Uhr. Ich schaue hinaus und sehe: Frauen, Männer, Alte, Junge, Studenten, Jugendliche, Kinder. Die meisten eilen von der Arbeit nach Hause. Zu Fuß, in Autos, in Tramlinien, Bussen. Einige strömen in Supermärkte oder schon wieder heraus. Studenten in die Uni zur Abendvorlesung. Mütter schieben ihre Kinder in Buggys. Alte führen den Hund an der Leine. Bars und Kaffees sind voll. Es wird geraucht und geprostet.
Gedanklich versetze ich mich nach Paris. Sehe ich anderes? Dann nach Moskau und Sankt Petersburg, weiter nach Irkutsk. Sehe ich anderes? Nein, nirgends sehe ich anderes. Dann nach Shanghai. Dann nach Tokio. Sehe ich anderes? Nein, überall die gleiche Szene. Dazu die Wortwahl aus Prof. Googles Liste: Frankreich schlägt Österreich. Japan schlägt Russland. Briten und Franzosen trennen sich unentschieden. Schön im Fußball. Aber davon ist hier nicht die Rede. Die Rede ist hier von Schlachten.
Ich suche nach den Verletzten - denen im Feld Bauch oder Brust durchschossen, Arme abgehackt, Beine zerquetscht wurden. Ich suche nach den Soldaten, die stunden-, tage-, wochen- und monatelang krepiert sind an ihren Verletzungen. In einem Elend, für das der Sprache die Begriffe fehlen. Ich suche nach den Toten. Ich suche nach Eltern, die ihre Söhne begraben - oder nicht gewusst haben, wo und wie im Krieg sie krepiert sind. Ich suche nach den Frauen, die ihre Männer und nach den Kindern, die ihre Väter verloren haben. Und ins Elend gefallen sind. In ein Elend, für das, ich sagte es schon, der Sprache die Begriffe fehlen.
Aber nein, kein Wort liefert Prof. Google. Nur: 3. August 1758: Seeschlacht bei Negapatam, Unentschieden zwischen Briten und Franzosen oder 2. Oktober 1796: Schlacht bei Biberach, Frankreich besiegt Österreich.
Am Podium wird palavert, aber kein Wort fällt zu den Toten, Verwundeten, Verschleppten, Witwen, Waisen. Bedeutungsschwanger reden sie, stimmlich und mimisch. Peking hat erklärt … Von Moskau weiß man …. Minsk schlägt sich zu Russlands … Die Ostflanke ist anfällig ….
Viele Sätze wie vom Trainer - der seinen Kickern Stärken und Schwächen des Gegners vermittelt. Aber wie erklärt Peking? Löst sich die Stadt von der Erdkruste, nimmt Gestalt an und spricht ins Mikrofon des Reporters? Und Moskau? In gleicher Weise Minsk oder Kiew oder Teheran oder Ankara? Muss ich mir das so vorstellen? Oder reden die da oben, ihren bedeutungsschwangeren Gesichtern zum Trotz, puren Blödsinn?
Orban fällt mir ein, Fico auch. Wie sie breit grinsend und gar nicht verlegen Putin die Hand schütteln. Der Schauspieler fällt mir auch ein. Der berühmte, den man mit pornografischen Kinderfotos erwischt hat. Dem schüttelt für den Rest seines Lebens keiner mehr die Hand. Der ist verurteilt und untergetaucht. Putin ist jeden Tag im Fernsehen. Putin reist durch die BRICS-Staaten, Putin redet auf Konferenzen. Gerne gesehener Gast ist er dort. Alle schütteln ihm grinsend die Hand. Unwertgehalt? Anschauen von – natürlich abscheulichen – Bildern versus ein paarhunderttausend Tote und Verwundete.
Prof. Google ist wieder gesprächig, indes gehen die Zahlen auseinander. Je nach Quelle sind es zwischen 43.ooo und 80.ooo Tote Militär auf ukrainischer und zwischen 70.ooo und 180.ooo auf russischer Seite. Aber nur aus der Zeit vom Februar 2022 bis Dezember 2024. Dazu kommen je nach Quelle ca 400.ooo bzw. 610.ooo Verwundete oder Kampfunfähige, wie gesagt: nur zwischen Februar 2022 und Dezember 2024. Dazu kommen die Opfer aus der Annexion der Krim, die Opfer Zivil, die Vermissten, die Deportierten, die getöteten Journalisten und die Toten im Donbass seit 2014. Also Daumen mal Pi: Anschauen pornografischer Kinderfotos: strafrechtliche Verurteilung undbürgerlicher Tod. Eine Million oder beträchtlich mehr Tote, Verwundete, Verschleppte, Vermisste: angesehener Staatsmann auf der halben Erdkugel.
Am Podium kommt man zum Ende. Man ist sich einig: Der Westen muss aufrüsten. Also die EU natürlich. Die sieht das auch so. Achthundert Milliarden Euro Investitionen in Rüstung. Bis 2030. Schuldenfinanziert zu Lasten künftiger Generationen.
Publikumsdiskussion mit den Vortragenden. Ich frage, ob sie sich ihrer kriegshetzerischen Diktion bewusst sind. Verständnislose Blicke. Welche kriegshetzerische Diktion? Forderung nach Rüstung – wie vor dem Ersten Weltkrieg. Verstehen sie nicht.
Ich frage, ob sie Putin für geistesgesund halten. Kurze Nachdenkpause. Ja sagen sie, eigentlich schon. Warum ich frage?
Aus der gerichtlichen Praxis heraus, sage ich. Jeder, der wegen des Verdachts des Mordes oder Mordversuchs in Untersuchungshaft gerät, wird gar bald dem Psychiater vorgeführt. Nach allgemeiner Auffassung ist Mord ein so abscheuliches Verbrechen, dass der Staat als Richter an der Geistesgesundheit des Täters zweifelt. Natürlich nur bei ein, zwei, drei Morden. Putins Überfall hatte, als der Vortrag stattfand, um die 2oo.ooo Menschen umgebracht.
Keine Antwort. Man wechselt das Thema.
Nach der offiziellen Diskussion spricht mich die Osteuropa-Professorin an. Ob ich tatsächlich glaube, Putin sei verrückt? Unterzeichnen Sie, rate ich ihr, das Todesurteil für 2oo.ooo Menschen. Dann gehen Sie entspannt zu Bett, schlafen gut, und nach dem Aufwachen am nächsten Morgen beantworten Sie sich die Frage selber.
Sie dreht sich um und geht weg.
Nochmals Schauplatz- und Szenenwechsel: Wir begeben uns nach Mainz. Es ist der 15. August 1235. Ja, tausendzweihundertfünfunddreißig - nach dem Julianischen Kalender, kein Tippfehler!
Kaiser Friedrich II. erlässt den Mainzer Reichslandfrieden. Ein geregeltes Gerichtsverfahren tritt an die Stelle des Faustrechts. Das Fehderecht wird eingeschränkt und 260 Jahre später im Ewigen Landfrieden von 1495 durch Maximilian I. auf dem Reichstag zu Worms gänzlich beseitigt. Nicht waffenfähige Personen – Frauen, Bauern, Juden, Geistliche, Kaufleute, Kirchen und Kirchhöfe – werden geschützt, Verletzungen des Schutzbereichs sanktioniert.
Art. 5 Satz 1 legt fest: „Recht und Gericht sind geschaffen, damit niemand Rächer seines eigenen Unrechts werde; denn wo die Autorität des Rechts fehlt, herrschen Willkür und Grausamkeit.“
Der Landfrieden ist bis heute geschützt. § 125 Abs 1 des deutschen Strafgesetzbuchs normiert:
Wer sich an 1. Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder 2. Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Ähnlich die Situation in Österreich: Der zwanzigste Abschnitt des Strafgesetzbuchs (StGB) regelt die strafbaren Handlungen gegen den öffentlichen Frieden. Er kennt die Straftatbestände der Schweren gemeinschaftlichen Gewalt (§ 274 StGB) und des Landzwangs (§ 275 StGB). Strafdrohungen reichen bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.
Daher: Faustrecht des Stärkeren? Im halbwegs zivilisierten Westen Europas seit 1235 nicht mehr! Die Ordnung ergibt sich aus der Schutzfunktion des Rechts. Findet das Recht keine Akzeptanz, gibt es keine Schutzfunktion. Es herrscht der Stärkere.
Nächster Szenenwechsel: Erste erfolgreiche Marslandung 20. Juli 1976. Ein Rover landete 45 Jahre später im Februar 2021 im Jezero-Krater. Erstaunliche Erfolge der Menschheit!
Und das Leben am Heimatplaneten?
Drei Psychopathen sind in der Lage, jedes Leben zu vernichten. Genauer eigentlich: Jeder der drei Psychopathen kann mit seinen Lakaien und Arsenalen alles Leben vernichten. Ein paar andere kommen noch dazu. Sie schaffen nicht die Vernichtung allen Lebens, aber Teile von Kontinenten.
Eine unbeschreibliche Demütigung: Weit mehr als acht Milliarden beträgt die Zahl der Menschen. Sie fliegen zum Mond und erkunden den Mars. Aber einer von ihnen kann sie auslöschen. Drei Psychopathen umso besser. Den Bestand an Tieren natürlich gleich mit. Ist da etwas schief gelaufen?
Die Menschheitsgeschichte beginnt als Urgeschichte vor 2,6 Millionen Jahren. Oder sie beginnt als Kulturgeschichte 3100 v.u.Z. mit Erfindung der Schrift. Beiden Varianten ist gemein: Wechselseitiges Umbringen durch Schädel Einschlagen, Abstechen, Füsilieren, Niederkartätschn, Bomben Werfen.
Erste Ansätze einer Einhegung des Massakrierens auf privater Ebne gelangen 1235 in Mainz, endgültig Schluss war 1495 in Worms, auf deutschem Boden übrigens. Erste Versuche einer Verhinderung des Massenmordens, Massakrierens, Schädel Einschlagens und Totbombens auf überstaatlicher Ebene unternahm 1920 der Völkerbund – der 1939 krachend scheiterte. Den Neuanfang versuchte die UNO 1945 mit dem Ziel, Kriege zu verhindern und Konflikte mithilfe des Völkerrechts und internationaler Gerichte zu lösen. Ich gebe zu: Großen Erfolg hat sie nicht.
Bevor ich nun zum Schluss komme:
Staaten führen keine Kriege, Herr Brodkorb! Kriege führen Psychopathen und deren Mitläufer, die genug Macht haben, Heere zu befehligen. Oberste Befehlshaber sind identisch mit den Psychopathen. Die Heere bestehen aus Menschen, die, im Regelfall zumindest, mit dem Krieg nichts am Hut und ganz andere Sorgen haben. Übernehmen Sie bitte nicht die Diktion derer, die Tatsachen vernebeln! Nennen Sie die Kriegsherren beim Namen – und zwar ausnahmslos! Verstecken Sie die Täter bitte nicht hinter dem Begriff Staat! Staat ist etwas gänzlich anderes als Kriegsherr.
Herr Brodkorb, Sie erklären die Kapitulation des Rechts vor der Macht des Stärkeren. Die Stärkeren sind die Putins, die Trumps, die Xi Jinpings und eine kleine Ebene darunter die Erdogans, die Netanjahus, Kim Jong-uns und noch ein paar andere. Aber Sie erklären nicht nur die Kapitulation des Rechts, Sie erklären auch die Kapitulation des Verstandes und der Moral – schlicht: die Kapitulation alles Normativen vor Gewalt. Damit stellen Sie sich uneingeschränkt in die Reihe der Mitläufer und nehmen Bürger als Geißeln. Wollen Sie sich tatsächlich mit den Psychopathen gemein machen, Herr Brodkorb?
Oder doch lieber nochmal nachdenken?
1 Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes6, PIPER 2009, 566 (über Thomas Hobbes´ Leviathan).
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Kriegen_und_Schlachten_im_18._Jahrhundert (24. Sep. 2025).
3 https://www.google.com/search?q=Zahl+der+Kriege+im+20.+Jahrhundert&sca_esv (24. Sep. 2025).
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Kriegen_und_Schlachten_im_20._Jahrhundert (24. Sep. 2025).
5 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Kriegen_und_Schlachten_im_18._Jahrhundert (24. Sep. 2025).
6 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Kriegen_und_Schlachten_im_19._Jahrhundert (24. Sep. 2025).
7 https://de.wikipedia.org/wiki/Opfer_des_Russisch-Ukrainischen_Krieges (24. Sep. 2025).
8 durch die NASA-Sonde Viking 1.
9 https://countrymeters.info/de/World (24. Sep. 2025).